Was Hamas für Israels Schwäche hielt, erwies sich als seine Stärke.
So absurd es im Rückblick auch erscheinen mag – viele in der Hamas glaubten, dass das Massaker vom 7. Oktober 2023 Israel nicht nur tief treffen, sondern letztlich zu dessen Vernichtung führen würde, schreibt Bret Stephens in der New York Times.
„Das war ihre religiöse Überzeugung. Sie hofften und glaubten, der Angriff würde Hisbollah und Iran zum Mitkämpfen bewegen. Und sie dachten, Israel sei trotz aller Hochtechnologie eine schwache Nation. Diese Überzeugung erwies sich als falsch – und tödlich“, schreibt Stephens.
Hamas-Chef Yahya Sinwar, einer der Architekten des 7. Oktober-Massakers, und andere Führungsmitglieder hielten Israel für schwach, weil es 2011 über tausend palästinensische Gefangene im Austausch gegen einen einzigen israelischen Soldaten freiliess. Sinwar selbst gehörte zu den Freigelassenen.
Zudem glaubte Hamas, Israel sei innerlich zerrissen – zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen Juden und Arabern, zwischen Befürwortern und Gegnern der umstrittenen Justizreform. Dieses Bild nährte den fatalen Irrtum, Israel sei instabil und würde unter einem Angriff zusammenbrechen.
Sinwar wollte, dass der Angriff vom 7. Oktober besonders grausam sein sollte, „um Angst zu erzeugen und das Land zu destabilisieren“. Doch das Gegenteil geschah: Noch nie zuvor stand Israel so geschlossen zusammen.
„Wir werden wohl nie erfahren, ob Sinwar […] je das Ausmass seiner Fehleinschätzung begriffen hat. Israel zerfiel nicht angesichts des Massakers. […] Es beschränkte sich nicht auf ein paar Wochen Krieg, es beugte sich weder internationalem Druck noch gab es seine Kriegsziele auf, um Geiseln freizubekommen“, schreibt Stephens.
Nach zwei Jahren Krieg war es Israel, das als Sieger hervorging – soweit im Nahen Osten überhaupt von einem dauerhaften Sieg die Rede sein kann.
Stephens weist darauf hin, dass Hisbollah im Libanon geschwächt, das Assad-Regime in Syrien gefallen und das iranische Regime gedemütigt und angeschlagen sei. Israel habe zudem alle überlebenden Geiseln zurückgeholt und Zusagen erhalten, dass Gaza künftig nicht mehr von Hamas regiert werde.
„Und Israel hat die diplomatischen Beziehungen zu befreundeten arabischen Staaten aufrechterhalten. Trotz aller globalen Proteste, feindlichen Kommentare und sinnlosen Waffenembargos geniesst es die volle Unterstützung der einzigen ausländischen Regierung, die wirklich zählt: der Regierung der Vereinigten Staaten.“
Doch der Sieg hatte einen hohen Preis. Über 1 150 Soldaten fielen. Teile des Gazastreifens liegen in Trümmern, das Leid der Zivilbevölkerung ist enorm. Die weltweite Antisemitismus-Welle hat zugenommen, Israel steht isolierter da, und sowohl westliche Progressive als auch Teile der extremen Rechten sehen in Israel die grösste Bedrohung der Welt.
„Vielleicht hätte man manches vermeiden können, aber ich bezweifle es: Israel wurde bereits in den ersten Kriegstagen der Kriegsverbrechen beschuldigt. Und ich bezweifle, dass viele Israelis oder ihre Unterstützer Israels aktuelle Lage gegen das Gegenteil eintauschen wollten – strategische Niederlage im Austausch für Sympathie und mehr Unterstützung im Westen“, schreibt Stephens weiter.
„Jahrhunderte der Verfolgung und Diskriminierung, gefolgt von einer kurzen Phase des Mitgefühls – das war es, was die Juden ursprünglich zur Gründung Israels trieb.“
Sinwar, der vor einem Jahr getötet wurde, glaubte, das Massaker würde Angst und Spaltung säen – doch es vereinte. Juden in Israel, ob links oder rechts, erkannten, dass sie einen existenziellen Kampf führten. Und sie verstanden, dass es keinen anderen sicheren Zufluchtsort für sie gab als Israel selbst.
„Die Unterstützung, die Hamas weltweit erhielt, machte deutlich, dass es auch heute keinen anderen sicheren Hafen für Juden gibt – nicht in Australien, nicht in Kanada, nicht in Grossbritannien, nicht in Frankreich, nicht in Deutschland und vielleicht auch nicht in den USA.“
Für die Israelis war klar: Sie mussten kämpfen – und sie mussten gewinnen.
„Der gegenwärtige Waffenstillstand wirft viele schwierige Fragen auf – für Israelis, Palästinenser und alle, die in ihre Zukunft verstrickt sind. Doch er sollte auch einiges klarmachen. Sind Israelis schwach? Ist ihre Nation auf Sand gebaut? Glauben sie wenig an ihre eigenen Überzeugungen?“, fragt Stephens zum Schluss.
„Yahya Sinwar und seine Gefolgsleute glaubten das. Das Grab, das er sich selbst schuf, sollte diese Frage endgültig beantworten.“



