Am 1. September 2025 ging eine Meldung um die Welt: Die Internationale Vereinigung der Völkermordforscher habe festgestellt, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begehe. Zahlreiche internationale und deutschsprachige Medien griffen die Nachricht in zugespitzter Form auf – oft mit der Formulierung, „700 Völkermordexperten“ hätten Israel des Genozids bezichtigt. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Diese Schlagzeilen waren komplett irreführend.
Der Faktencheck im Kurze
Ja,
die International Association of Genocide Scholars (IAGS) verabschiedeten am 31. August 2025 die «IAGS Resolution on the Situation in Gaza», die behauptet, dass Israels krieg in Gaza „der gesetzlichen Definition von Völkermord in Artikel II der Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1948) entsprechen“.
Aber nein,
keineswegs haben 700 Völkermordexperten diese Resolution zugestimmt.
- Die IAGS zählte zur Zeit der Abstimmung weltweit etwa 500 Mitglieder.
- Nur 28 % der Mitglieder haben sich an der Abstimmung über die Gaza-Resolution beteiligt.
- Von diesen Teilnehmenden haben 86 % der Resolution zugestimmt.
- Das ergibt lediglich rund 120 Stimmen – also nicht 700, wie in vielen Medien behauptet.
- Vor allem, die IAGS besteht nicht ausschliesslich aus Völkermordexperten. Auf ihrer Webseite beschreibt sie sich als multidisziplinär: Neben Historikern, Juristen und Politikwissenschaftlern gehören auch Aktivisten, Studenten, Politiker, Journalisten, Psychologen, Literaturwissenschaftler, Künstler und Lehrer zur Mitgliedschaft.
- Eine Mitgliedschaft ist ab $30 möglich, ohne Nachweis akademischer Qualifikation oder spezifischer Expertise zum Thema Genozid.
Es zeigt sich also, dass alles, was es braucht, um bei der IAGS als «Völkermordexperte» zu gelten, eine Kreditkarte ist.
Hitler bei der IAGS?
Um das Aufnahmeverfahren bei der IAGS zu überprüfen, versuchte Salo Aizenberg von HonestReporting eine Registrierung und wurde unter den Namen Adolf Hitler und Sheev Palpatine tatsächlich als stimmberechtigtes Mitglied akzeptiert. Siehe Screenshots:

Darüber hinaus fand Aizenberg heraus, dass 80 IAGS-Mitglieder aus dem Irak stammen – einem Land, das keine einzige akademische Einrichtung für Völkermordforschung unterhält.

Ein wissenschaftlicher Beirat existiert bei der IAGS, doch der Verband trifft seine Resolutionen per Mehrheitsentscheid unter den Mitgliedern – unabhängig von Qualifikation oder Forschungsstand. Mitglied kann grundsätzlich jeder werden, der die Aufnahmegebühr bezahlt.
Die Rolle der Medien
Associated Press und Reuters wiesen korrekt darauf hin, dass 86 Prozent der Teilnehmenden zugestimmt hatten – versäumten es jedoch klarzustellen, dass nur eine Minderheit der Mitglieder überhaupt an der Abstimmung beteiligt war. Spätestens in den Schlagzeilen vieler großer Medienhäuser wurde der Sachverhalt dann höchst irreführend, um nicht zu sagen gravierend unseriös dargestellt. Es entstand der Eindruck, eine exklusive Gruppe ausgewiesener Experten und Genozidforscher sei zu dem Schluss gekommen, Israel begehe Völkermord.
Aus englischsprachigen Medien:
- BBC: Israel committing genocide in Gaza, world’s leading experts say
- Financial Times: Israel committing genocide in Gaza, say scholars
- Al Jazeera: The world’s leading genocide scholars have declared that Israel’s war on Gaza meets the legal definition of genocide
- Time: Israel’s Policies and Actions in Gaza ‘Meet Legal Definition of Genocide,’ Says Association of Scholars
Aus deutschsprachigen Medien:
- TAZ: Forscher sehen eine Genozid
- ORF: Fachleute zu Gaza: Kriterien für Genozid durch Israel erfüllt
- Süddeutsche Zeitung: Eine weltweite Vereinigung von Forschern wirft Israel Genozid in Gaza vor
- Tagesspiegel: Forscher sehen Kriterien für Völkermord in Gaza erfüllt
- Die Presse: Forscher sehen in Gaza Genozid-Kriterien erfüllt
Wer also kein besonderes Vorwissen zur IAGS hat, musste aus diesen Berichten fast zwangsläufig den Eindruck gewinnen, bei der fraglichen Resolution handle es sich um eine überwältigende Zustimmung der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft – in Wirklichkeit jedoch kam sie durch die Stimmen von lediglich rund 120 Personen mehr oder weniger beliebigen Hintergrunds zustande.
Interne Kritik am Verfahren
Die formalen Abläufe innerhalb der IAGS wurden im Nachgang heftig diskutiert – sowohl intern als auch in Fachkreisen. Die amerikanische Historikerin Sara Brown, selbst langjähriges Mitglied der IAGS, äusserte sich gegenüber dem schwedischen Blatt Aftonbladet kritisch: „Uns wurde eine offene Debatte versprochen, ein digitales Town-Hall-Meeting, in dem Argumente ausgetauscht werden sollten – das fand nicht statt.“
Andere Mitglieder kritisierten die fehlende Transparenz im Abstimmungsprozess, sowie die Tatsache, dass die Resolution in einer Phase hoher emotionaler Aufladung und internationaler Polarisierung zur Abstimmung kam – ohne ausreichende Möglichkeit zur Gegenrede.
Politische Schlagkraft trotz faktischer Schwäche
Trotz der geringen Zahl von etwa 120 zustimmenden Stimmen wurde die Resolution von vielen politischen Akteuren als bedeutende moralische Instanz zitiert. NGOs wie Human Rights Watch und Amnesty International nahmen das IAGS-Votum als weiteren Beleg für ihre eigenen Vorwürfe gegen Israel. Auch palästinensische Vertreter bei den Vereinten Nationen verwiesen in Stellungnahmen auf die Resolution und forderten weitere Schritte gegen Israel, darunter Sanktionen und Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
🟦 MIFF kommentiert
Der Fall der IAGS-Resolution zeigt exemplarisch, wie politische Meinungen und wissenschaftliche Autorität vermischt werden können – und wie dies in der medialen Berichterstattung zu verzerrten Darstellungen führt.
Wissenschaft lebt vom Diskurs, von methodischer Strenge und überprüfbaren Argumenten. Wenn jedoch eine kleine Gruppe von Aktivisten, zum Teil ohne fachliche Qualifikation, im Namen der „Völkermordforschung“ Resolutionen verabschiedet, die dann in den Medien als Expertenkonsens erscheinen, dann entsteht ein gravierendes Glaubwürdigkeitsproblem – sowohl für die Organisation selbst als auch für den öffentlichen Diskurs über Krieg, Recht und Moral.
Fazit
Die fragliche IAGS-Resolution ist kein Beweis für einen akademischen Konsens über einen israelischen Genozid in Gaza. Sie ist das Ergebnis einer Abstimmung, an der nur ein kleiner Teil der Mitglieder teilgenommen hat – von denen wiederum viele keine ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet sind. Die mediale Darstellung der Resolution als ein Konsens von Völkermordexperten ist somit hochgradig irreführend.
Was bleibt, ist eine politisch aufgeladene Stellungnahme einer Organisation, die in ihrer jetzigen Struktur mehr Aktivistenplattform als wissenschaftliche Fachgesellschaft ist. Wer sich auf die Resolution beruft, sollte sich dessen bewusst sein – und differenzieren zwischen politischem Protest und juristisch belastbarem Vorwurf.
Dr. philos. Jens Tomas Anfindsen unterrichtet seit vielen Jahren in den Bereichen Religion, Philosophie und Ethik. Er ist Leiter von MIFF DACH und Redaktor von Israelfrieden.org.

