Das Auditorium maximum der Universität Bern war bis auf den letzten Platz besetzt, als zwei Islamwissenschaftler den ersten von fünf Abenden der Ringvorlesung „Nachdenken über Nahost“ am Donnerstagabend eröffneten.
MIFF bietet untenstehend eine journalistische Kurzzusammenfassung der Vorträge – und kommentiert.
Gleich zu Beginn erinnerten die Organisatoren eindringlich an das Ziel eines respektvollen Dialogs – ein Appell, der an diesem Abend vollumfänglich Gehör fand. Keine Flaggen, keine Parolen, keine Unterbrechungen – Stattdessen prägten Ruhe, Aufmerksamkeit und akademische Haltung die Stimmung, als sich über 250 Zuhörer im prachtvollen Saal der Universität Bern zum gedanklichen Austausch über den Nahen Osten versammelten.
Die Referenten
Prof. Dr. Florian Zemmin, Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin
Dr. Sarah El Bulbeisi, Institut für den Nahen und mittleren Osten, Ludwig-Maximilians-Universität München
Zusammenfassung
Nach bestem Verständnis wiedergegeben — ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Professor Zemmin
Palästinensische und israelische Geschichtsnarrative sind beide authentisch.
Essenzialistische Vorstellungen von Geschichte sind ausdrücklich zurückzuweisen. Geschichte befasst sich mit dem Kontingenten. Es gibt kein Narrativ, keine Theologie, keine Teleologie der Geschichte, die essenziell wahr wäre.
Nicht nur jüdische und palästinensische Narrative unterscheiden sich, auch innerhalb ihrer Diskurse gibt es grosse Variationen. Beleg durch Beispiele: Jüdische Historiker wie Efraim Karsh, Ilan Pappé, Benny Morris, Avi Shlaim und Tom Segev vertreten sehr unterschiedliche Zugänge zur modernen Geschichte Israels und zur Bildung nationaler Identität.
Dr. El Bulbeisi
Nicht nur ist der Holocaust eine Ursache für die Nakba [Flucht/Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948]; auch die einseitige westliche Erinnerungskultur zum Holocaust verdrängt die Nakba-Erfahrung der Palästinenser. Der Holocaust nimmt der Nakba die Aufmerksamkeit.
Die westliche Öffentlichkeit tabuisiert die palästinensische Nakba-Erfahrung. Dadurch werden Vertreibungstrauma, Schmerz und Leid der Palästinenser verstärkt.
Die Tabuisierung des palästinensischen Schmerzes gleicht einer Auslöschung der palästinensischen Identität – einer De-Subjektivierung.
Die Ausgrenzung der palästinensischen Identität und das Verschweigen des palästinensischen Leids im Westen sind eine Form systemischer Gewalt.
Für Palästinenser im Westen ist es schrecklich, unter pauschalem Antisemitismusverdacht zu stehen. Es findet eine Dämonisierung der palästinensischen Identität statt.
Die öffentliche und politische Unterstützung Israels wird als Erinnerung an koloniale Gewalt und Unterdrückung erlebt.
Die palästinensische Opferidentität soll nicht aufgegeben, sondern sogar an die nächste Generation weitergegeben werden.
🟦 MIFF kommentiert
Professor Zemmins Vortrag kann insgesamt als unaufgeregt und wenig kontrovers bezeichnet werden, auch wenn die epistemologische Grundlage seines Geschichtsverständnis durchaus einer philosophischen Prüfung wert gewesen wäre.
Dr. El Bulbeisi hingegen, der das Publikum mit grösster Milde begegnete, trug Thesen vor, die – gemessen am akademischen und gesellschaftlichen Konsens im Westen – als ausgesprochen kontrovers einzustufen sind.
problematischer Vergleich
Es erscheint gewagt, die Flucht- und Vertreibungserfahrung von rund 600 000 Palästinensern – ein Geschehen innerhalb weniger Kilometer desselben Sprach- und Kulturraums, ausgelöst durch einen Krieg, der von arabischer Seite begonnen wurde – mit der absichtlichen industriellen Vernichtung von fünf bis sechs Millionen Juden sowie der Flucht und Vertreibung weiterer rund 2,5 Millionen über Länder-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg gleichzusetzen. Das schiere Ausmass beider Ereignisse, sowohl quantitativ als auch qualitativ, liegt so weit auseinander, dass bereits Vergleiche problematisch, eine Gleichsetzung aber in jedem Fall respektlos ist.
Das Gesagte schliesst selbstverständlich nicht aus, dass auch Palästinenser Unrecht erlitten haben, das berechtigte Kompensationsansprüche begründen kann.
die territoriale Dimension
Juden und Araber bewohnen den Nahen Osten seit dem Bronzezeitalter. Sie sind Halbgeschwister Abrahams. Heute beträgt der jüdische Gebietsanteil jedoch nur rund 0,18 Prozent des arabischen.
Dr. El Bulbeisis Ausführungen scheinen diese grundlegende Frage nach territorialer Teilung und Gerechtigkeit vollständig ausser Acht zu lassen.
kritische Frage zum geerbten Flüchtlingsstatus
Darüber hinaus möchte ich den Thesen von Dr. El Bulbeisi eine Frage entgegenstellen, die ich im Plenum gerne gestellt hätte, dazu aber keine Gelegenheit fand:
Viele Völkergruppen mussten im Verlauf des 20. Jahrhunderts infolge von Kriegen flüchten. Einige historische Beispiele:
- Indien / Pakistan (1947): Durch die Teilung Britisch-Indiens wurden schätzungsweise 14–16 Millionen Menschen aus ihren Heimatregionen vertrieben.
- Griechenland / Türkei (1923): Etwa 1,2 Millionen Griechen aus Kleinasien und rund 350 000–400 000 Muslime aus Griechenland wurden im Rahmen eines Bevölkerungsaustauschs umgesiedelt.
- Deutschsprachige Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg: Mehr als 10 Millionen ethnische Deutsche flohen oder wurden aus Ost- und Mitteleuropa vertrieben.
Für keine dieser Volksgruppen gilt, dass ihr Flüchtlingsstatus über Generationen hinweg weitervererbt wird.
Ich kenne aus meiner Familie und meinem Freundeskreis Dutzende Nachkommen solcher Flüchtlinge – keiner von ihnen betrachtet sich heute als Flüchtling. Keiner führt Krieg gegen die damaligen Täter, keiner pflegt einen Opferstatus oder versucht, ihn an seine Kinder weiterzugeben. Alle sind, wie schon ihre Eltern und Grosseltern, mit dem Aufbau eines neuen Lebens in ihren neuen Heimatländern beschäftigt.
Warum also ist dies im Fall der Palästinenser so grundsätzlich anders?
NB: Beide Referenten haben das vorliegende Referat von MIFF zur Einsicht erhalten. Selbstverständlich gewähren wir ihnen das Recht, bei Bedarf Berichtigungen oder Klarstellungen zu veröffentlichen, falls sie sich missverstanden oder unzutreffend wiedergegeben sehen.
Aktualisierung, 27.10.2025
Frau Dr. El Bulbeisi hat auf unser Angebot, Berichtigungen oder Klarstellungen zu veröffentlichen, reagiert und folgende Ergänzung übermittelt:
«Es ist bedauerlich, dass Sie Ihre Frage nicht gestellt haben – ich hätte sie gerne beantwortet. Die Formulierung eines ererbten Opfer- oder Flüchtlingsstatus erkenne ich so nicht als die meine wieder; ich habe von der Vererbung von Schmerz gesprochen. Hinzufügen kann ich des Weiteren, dass es auch mir ein Anliegen ist, die Grauen des deutschen Nationalsozialismus nicht zu verharmlosen.«
Über den Autor:
Dr. philos. Jens Tomas Anfindsen unterrichtet seit vielen Jahren in den Bereichen Religion, Philosophie und Ethik. Er ist Leiter von MIFF DACH und Redakteur von Israelfrieden.org.



